Einladung des Literaturhauses Köln Lesung am 26. September 2005

Gedichte von Annemarie Schnitt irische Musik von Conny Schnitt
Fotografien von Berni Patten

Liebe Freunde des Literaturhauses:
																																																													  
																																																													  Es gehört zu den Merk-Würdigkeiten der Literatur, dass Dichter zahlreichen
																																																													  Lesern "Lebenshilfe" spenden und "dass man sich immer wieder
																																																													  ihrer Werke bedient, um sich aus eigenen Wirren und Verwirrungen
																																																													  herauszuarbeiten". Diese Beobachtung des Literaturwissenschaftlers
																																																													  Richard Exner lässt sich auf die Gedichte von Annemarie Schnitt übertragen,
																																																													  die wir Ihnen heute Abend im Literaturhaus vorstellen möchten.
																																																													  
																																																													  "Mir ist die Lächerlichkeit, Gedichte zu schreiben lieber als die
																																																													  Lächerlichkeit, keine zu schreiben." Dieser Vers der polnischen
																																																													  Nobelpreisträgerin Wislawa Simborska ist für die 1925 in Tungkun (Süd-China)
																																																													  geborene Annemarie Schnitt Ansporn und Herausforderung zugleich. In ihren
																																																													  Gedichten und Prosaskizzen versteht sie das Schreiben als "Fliegen /
																																																													  deutlicher Dinge deuten / aus der Distanz". In ihren Gedichtzyklen
																																																													  finden sich sowohl poetische Betrachtungen über die Veränderung der Natur im
																																																													  Ablauf des Jahres wie auch Annährungen an große literarische Vorbilder wie
																																																													  Rose Ausländer und Else Lasker-Schüler.
																																																													  
																																																													  Die Lesung von Annemarie Schnitt, die um 20.00 im Literaturhaus beginnt, wird
																																																													  begleitet von irischer Geigenmusik, gespielt von Annemarie Schnitts Tochter
																																																													  Conny sowie illustrierenden Fotos zu einzelnen Texten.
																																																													  
																																																													  Wir würden uns freuen, Sie zu einem sicher stimmungsvollen Abend im
																																																													  Literaturhaus begrüßen zu dürfen.
																																																													  Bettina Fischer - Thomas Böhm
																																																													  
																																																													  
																																																													  

																																																													  
																																																													  
																																																													  Musik von Conny Schnitt - Fotografie von Bernie Patten
																																																													  
																																																													  
																																																													  Wozu schreiben?
																																																													  
																																																													  Gedanken festzuhalten
																																																													  im Vers
																																																													  eh sie verfliegen
																																																													  
																																																													  Farben aufzufangen
																																																													  in Metaphern
																																																													  eh sie verblassen
																																																													  
																																																													  Liebe zu beschwören
																																																													  im Wort
																																																													  eh sie verweht
																																																													  
																																																													  Leben fortzudenken
																																																													  in Reimen
																																																													  eh es verdunkelt
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Guten Abend!
																																																													  
																																																													  Ich begrüße Sie und Euch Freunde zu dieser kleinen Lesung, zu der ich
																																																													  freundlich überredet wurde! Heute freue ich mich und bedanke mich für diese
																																																													  Einladung! Nun sitze ich hier und frage mich wieder einmal neu: Wozu
																																																													  schreiben?
																																																													  
																																																													  Wozu Gedichte schreiben, Worte in Rhythmus und Versmaß bringen?
																																																													  Mir fallen da ein paar Zeilen der polnischen Lyrikerin und Nobelpreisträgerin
																																																													  Wislawa Simborska ein, die sagt:
																																																													  Mir ist die Lächerlichkeit, Gedichte zu schreiben lieber als die
																																																													  Lächerlichkeit, keine zu schreiben.
																																																													  
																																																													  Poesie grenzt an Magie. Sie verzaubert, sie entführt,das zweite Ich zu
																																																													  entdecken. In Gedichten kommt es zu einer Verschmelzung von Denkbarem und
																																																													  Fühlbarem. Du tauchst ab, gerätst ins Schweben, in einen Zustand der Distanz,
																																																													  der deinem inneren Auge die Welt neu erschließt. Es gibt Steine, aus denen du
																																																													  Feuer schlagen kannst. Poesie, glaube ich, ist solch ein Stein.
																																																													  
																																																													  Das Gedicht … so Oktavio Paz, fordert die Abschaffung des Dichters, der es
																																																													  schreibt, und die Geburt des Dichters, der es liest, (der es hört). In diesem
																																																													  Sinne möchte ich beginnen - zum Anfang mit einem Gedicht, mit dem mein Enkel
																																																													  bei einer Geburtstagslesung vor drei Jahren den Auftakt machte:
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Schritte durch ein Jahr
																																																													  
																																																													  Der eine kriecht-
																																																													  der andere schreitet-
																																																													  einer wankt-
																																																													  ein nächster gleitet-
																																																													  der fünfte trippelt-
																																																													  der sechste stelzt-
																																																													  ein siebter
																																																													  durch die Welt sich wälzt-
																																																													  der achte fliegt ganz
																																																													  federleicht vondannen
																																																													  bedenke dies und sag dir leise:
																																																													  ein jeder Mensch auf seine Weise
																																																													  kommt schließlich doch zum Ziel der Reise
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Wandel der Jahreszeiten
																																																													  
																																																													  immer ein Stück
																																																													  sich selbst voraus sein
																																																													  auf den Wegen voran
																																																													  Wandlungen begegnen
																																																													  wie Freunden
																																																													  Veränderungen begrüßen
																																																													  wie den Wandel der Jahreszeiten
																																																													  dem Rhythmus
																																																													  dem Kreis nachspüren
																																																													  dem Lauf der Flüsse ins Meer
																																																													  
																																																													  
																																																													  

																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Frühling
																																																													  
																																																													  ein Ahnen
																																																													  wie Vorfreude auf Neues
																																																													  aufgetaut dein Winterherz
																																																													  wie es vibriert
																																																													  in weicher Luft
																																																													  warm durchpulst
																																																													  vom Glück des Kommenden
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Ein neues Lied
																																																													  
																																																													  so viele Lenze
																																																													  und wieder Saft
																																																													  in den Zweigen
																																																													  den Taktstock
																																																													  des Frühlings
																																																													  leih ich mir
																																																													  für ein neues Lied
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Frühling
																																																													  
																																																													  nah am Tor
																																																													  noch entblättert
																																																													  die Trauerbirke
																																																													  zurückgedrängte Kraft
																																																													  in zitternden Zweigen
																																																													  zurückgedrängtes Feuer
																																																													  im stummen Stamm
																																																													  
																																																													  es wird ein Gesang
																																																													  besiegen den Frost
																																																													  es wird ein Gestirn
																																																													  entfachen ein Feuer
																																																													  in Stamm und Geäst
																																																													  es wird ein Frühling
																																																													  vertreiben die Trauer
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Im Mai
																																																													  
																																																													  abgeholt von der Sonne
																																																													  zum Lauf in den Tag
																																																													  leicht und sicher
																																																													  an ihrer warmen Hand
																																																													  unter ihrem Blick
																																																													  singen die Vögel in dir
																																																													  die wintertasgs verstummten
																																																													  Verblasstes blüht auf
																																																													  Verdunkeltes lichtet sich
																																																													  Lautes wird leise
																																																													  Unstimmiges stimmig
																																																													  für einen Tag Hand-in-Hand
																																																													  mit der Sonne im Mai
																																																													  
																																																													  
																																																													  

																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Sommer
																																																													  
																																																													  den Sommer
																																																													  anwachsen lassen
																																																													  über der Stirn
																																																													  
																																																													  was brach liegt
																																																													  zum Blühen bringen
																																																													  in neuem Licht
																																																													  
																																																													  vielleicht möcht
																																																													  ein einziges Wort
																																																													  auferstehen
																																																													  
																																																													  zum Leben
																																																													  unter dem Himmel
																																																													  dem einzigen
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Noch ist Sommertag
																																																													  
																																																													  und offen der Himmel
																																																													  die Luft voller Samen
																																																													  und süßem Duft
																																																													  in den Feldern der Mohn
																																																													  in den Gärten Margriten
																																																													  am Steilhang
																																																													  zwischen Moos
																																																													  mein kleines Gedicht
																																																													  
																																																													  noch ist Sommertag
																																																													  und offen der Himmel
																																																													  es dreht sich der Drachen
																																																													  lautlos im Wind
																																																													  der Surfer spannt den Flügel
																																																													  zum Flug über Fluten
																																																													  am Spinnennetz spinnt
																																																													  mein kleines Gedicht
																																																													  
																																																													  noch ist Sommertag
																																																													  und offen der Himmel
																																																													  es atmet die Erde
																																																													  ganz arglos im Traum
																																																													  was tun wenn durch Menschen
																																																													  Zerstörung einbricht
																																																													  Taubenflügel wünsch ich
																																																													  meinem kleinen Gedicht
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Rosenzeit
																																																													  
																																																													  zur Feier des Tages
																																																													  eine Rose für dich
																																																													  dass dein Lachen
																																																													  sich unverloren verliert
																																																													  in farbenberedte
																																																													  Sprachlosigkeit
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Den Sommer bannen
																																																													  
																																																													  Den Sommer bannen
																																																													  in einen letzten Augenblick der Wärme
																																																													  ihn schmecken wie Glück
																																																													  ihn speichern unter der Haut
																																																													  als Vorrat gegen Fröste
																																																													  Entfaltete Flügel
																																																													  
																																																													  was bleibt von alledem
																																																													  vom Gesang des Sommers
																																																													  vom tete à tete mit dem Glück
																																																													  von den Farben der Freundschaft
																																																													  was bleibt von alledem
																																																													  vom Tag-Traum und Nacht-Gespinst
																																																													  
																																																													  von den Schüben des Schicksals
																																																													  
																																																													  nichts bleibt
																																																													  im Verbleiben am Fleck
																																																													  alles bleibt in der Kraft
																																																													  entfalteter Flügel
																																																													  
																																																													  
																																																													  

																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Etwas gegen den Wind setzen
																																																													  
																																																													  etwas Helles gegen die Nacht
																																																													  etwas Festes gegen den Schwindel
																																																													  etwas Klingendes gegen die Leere
																																																													  
																																																													  einen Traum gegen den Tag
																																																													  eine Insel gegen den Lärm
																																																													  eine Rose gegen den Winter
																																																													  
																																																													  ein Tun gegen das Chaos
																																																													  ein Gedicht gegen die Sprachlosigkeit
																																																													  Gebete gegen den Stumpfsinn
																																																													  
																																																													  etwas gegen den Wind setzen
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Herbst
																																																													  
																																																													  Nebelschwaden
																																																													  über dem Strand
																																																													  ich such im Windlicht
																																																													  meinen Weg
																																																													  hab noch Sand
																																																													  in Hosentaschen
																																																													  hab ein Lied
																																																													  dass weiterträgt
																																																													  Sonnenblume
																																																													  
																																																													  ich möcht
																																																													  mit deiner Sprache sprechen
																																																													  ich möcht mit deinem Blühen blühn
																																																													  
																																																													  ich möcht
																																																													  mit deinem Lachen lächeln
																																																													  ich möcht mit deiner Farbe färben
																																																													  
																																																													  trüber Tage Nebelkleid
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Nebeltag
																																																													  
																																																													  Schritte im Nebel
																																																													  von Schleiern umschlossen der Tag
																																																													  kein Duchblick mehr kein Halt
																																																													  auf leisen Füßen
																																																													  schleichen sich Stunden voran
																																																													  zu lösen aus Nebeln den Tag
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Erntedank
																																																													  
																																																													  als Dank
																																																													  für die Geduld des Himmels
																																																													  dass nicht aufhört Frost und Hitze
																																																													  Sonne Wind und Regen
																																																													  dass noch Zeit bleibt für bessere Früchte
																																																													  auf der bedrohten Erde
																																																													  
																																																													  Erntedank
																																																													  als Dank
																																																													  für die Fähigkeit
																																																													  zu Einsicht und Umkehr
																																																													  als Dank
																																																													  für geschenktes Leben
																																																													  das auf Ernte drängt
																																																													  immer neu und voll Verheißung
																																																													  
																																																													  
																																																													  

																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Eisregen
																																																													  
																																																													  als der Eisregen kam
																																																													  floh ich unter ein Dach
																																																													  schlug Feuer
																																																													  aus meinen Gedanken
																																																													  mit warmer Stirn
																																																													  zu trotzen der Kälte
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Freunde finden
																																																													  
																																																													  ein Haus finden
																																																													  zu wohnen
																																																													  hinter Tausendklang
																																																													  im Einklang
																																																													  
																																																													  Freunde finden
																																																													  zu zünden in
																																																													  der Kälte
																																																													  ein Feuer
																																																													  
																																																													  Töne finden
																																																													  zu singen
																																																													  gegen die Leere
																																																													  ein Lied
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Wintermorgen
																																																													  
																																																													  Schau
																																																													  in Flocken löst der Himmel
																																																													  sich lautlos auf
																																																													  schneeweiße Schleier
																																																													  umhüllen die Welt
																																																													  das Wunder wohnt tief
																																																													  unter den Träumen
																																																													  
																																																													  Warte nicht
																																																													  fang an
																																																													  schau dich nicht um
																																																													  fang an
																																																													  schreib deine Schrift
																																																													  in den Schnee
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Schneetanz
																																																													  
																																																													  Wenn wintertags
																																																													  der Schneetanz beginnt
																																																													  nimmt er dich mit
																																																													  ins weiße Vergessen
																																																													  kopfüber taumelst du
																																																													  mit den Flocken ins Nichts
																																																													  dich neu aufzuspüren
																																																													  im Scheeweiß
																																																													  
																																																													  
																																																													  Trau den Spuren
																																																													  
																																																													  draußen im Schnee
																																																													  den allerersten
																																																													  die dich hinausführen
																																																													  über das Glück des Anfangs
																																																													  in das Glück des Gelingens
																																																													  
																																																													  
																																																													  Bau dir ein Haus
																																																													  
																																																													  bau dir ein Haus
																																																													  fest für den Rücken
																																																													  das dich stärkt
																																																													  im aufrechten Gang
																																																													  
																																																													  bau dir ein Haus
																																																													  tragbar für die Tasche
																																																													  das dich begleitet
																																																													  quer durch die Zeit
																																																													  
																																																													  bau dir ein Haus
																																																													  verborgen im Herzen
																																																													  das dich wärmt
																																																													  im winterlichen Frost
																																																													  
																																																													  bau dir ein Haus
																																																													  hell hinter den Gedanken 
																																																													  das dir leuchtet
																																																													  zu nächtlicher Stund
																																																													  Musik
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Weihnachten
																																																													  
																																																													  Unser Weg in die Zukunft
																																																													  Fußmarsch am Grat
																																																													  Meter um Meter durch Nebel
																																																													  wir schlagen ein Zelt auf
																																																													  und hauchen Leben
																																																													  warm gegen den Wind
																																																													  bedenken die Stätten
																																																													  die längst schon begangen sind
																																																													  weit zurück
																																																													  bis zur Hütte zum Kind
																																																													  und wagen neu
																																																													  gegen die Kälte zu gehen
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Weihnachtswunsch
																																																													  
																																																													  wach zu werden
																																																													  wie die Weisen
																																																													  hellhörig wie die Hirten
																																																													  bewegt wie Josef
																																																													  wissend wie Maria
																																																													  Gefährten zu finden mit 
																																																													  Flügeln
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Ich ahne
																																																													  
																																																													  Menschenmögliches
																																																													  zwischen Menschen
																																																													  aller Rassen und Nationen
																																																													  zwischen Menschen aller Generationen
																																																													  zwischen Mann und Frau
																																																													  ich ahne Menschenmögliches
																																																													  im Unmöglichen
																																																													  Menschenunmögliches als Mögliches
																																																													  unter dem Zuruf des Himmels
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Jahresabschied
																																																													  
																																																													  im Dämmer
																																																													  über hingeduckten Häusern
																																																													  ein magerer Mond über dem Meer
																																																													  am letzten Tag des Jahres
																																																													  
																																																													  allein dem Menschen möglich
																																																													  das Zugehen auf Zukunft
																																																													  von Jahr zu Jahr
																																																													  von Neumond zu Neumond
																																																													  
																																																													  zu neuem Ziel
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Neujahr
																																																													  
																																																													  unter Wellenrauschen
																																																													  in ein neues Jahr
																																																													  
																																																													  wir flüchtigen Wesen
																																																													  verrauschender Zeit
																																																													  
																																																													  hingeworfen
																																																													  ans nackte Ufer
																																																													  
																																																													  festzuhalten den Tag
																																																													  fortzuschreiben den Weg
																																																													  
																																																													  
																																																													  

																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Zum Abschluss der Lesung:
																																																													  
																																																													  Verfügungen für 12 Monate
																																																													  aufgefangen von Thiago de Mello
																																																													  (ein brasilianischer Lyriker und Musiker)
																																																													  
																																																													  
																																																													  
																																																													  Januar:
																																																													  Es wird verfügt, dass Geld niemals die Sonne des kommenden Morgens kaufen
																																																													  kann, und dass jeder Mensch sich an den Tisch setzen kann mit ungetrübtem
																																																													  Blick...
																																																													  
																																																													  
																																																													  Februar:
																																																													  Es wird verfügt, dass jetzt die Wahrheit zählt, dass jetzt das Leben zählt,
																																																													  und dass wir alle Hand in Hand
																																																													  für das wahre Leben eintreten.
																																																													  
																																																													  
																																																													  März:
																																																													  Es wird verfügt, dass es jedem Menschen erlaubt ist, sich in jeder Stunde
																																																													  seines Lebens weiß zu kleiden.
																																																													  
																																																													  
																																																													  April:
																																																													  Unwiderruflich wird die ewige Herrschaft der Gerechtigkeit und des Lichtes
																																																													  ausgerufen!
																																																													  
																																																													  
																																																													  Mai:
																																																													  Es wird verfügt, dass alle Fenster den ganzen Tag dem Grünen geöffnet
																																																													  bleiben, wo die Hoffnung wächst!
																																																													  
																																																													  
																																																													  Juni:
																																																													  Es wird verfügt, dass das tägliche Brot immer den warmen Geschmack der
																																																													  Zärtlichkeit haben soll!
																																																													  
																																																													  
																																																													  Juli:
																																																													  Es wird verfügt, zu wissen, dass es das Wasser ist, das der Pflanze das Wunder
																																																													  der Blume gibt!
																																																													  
																																																													  
																																																													  August:
																																																													  Es wird erlaubt sein, am Nachmittag mit einer riesengroßen Begonie im
																																																													  Knopfloch spazieren zu gehen! Nur eines wird verboten sein:
																																																													  zu lieben ohne Liebe.
																																																													  
																																																													  
																																																													  September:
																																																													  Es wird verfügt, daß von nun an in allen Fenstern Sonnenblumen stehen.
																																																													  
																																																													  
																																																													  Oktober:
																																																													  Es wird verfügt, dass der Mensch niemals mehr am Menschen zweifeln muß, dass
																																																													  der Mensch dem Menschen vertrauen kann wie die Palme dem Wind!...
																																																													  
																																																													  
																																																													  November:
																																																													  Es wird verfügt, dass Menschen frei vom Joch der Lüge sind. Niemals wird es
																																																													  nötig sein, sich zum Schutze in Schweigen zu hüllen!
																																																													  
																																																													  
																																																													  Dezember:
																																																													  Für ein Jahrtausend wird das von dem Propheten Jesaja erträumte Leben
																																																													  festgesetzt: Der Wolf und das Lamm werden gemeinsam weiden, und die Nahrung
																																																													  beider wird nach Morgenröte schmecken.

------------------------------------------------------------------------------------------
Lesung 2001 Northeim
Ein Jahr im Spiegel von Gedichten
Lesung am 29.12.01
Schritte durch ein Jahr
der eine kriecht-
der andere schreitet-
einer wankt-
ein nächster gleitet-
der fünfte trippelt-
der sechste stelzt-
ein siebter
durch die Welt sich wälzt-
der achte fliegt ganz
federleicht vondannen
bedenke dies und sag dir leise:
ein jeder Mensch
auf seine Weise
kommt schließlich doch
zum Ziel der Reise
Wie Hügel
springen die Feste
aus der Landschaft des Lebens
hochgewehte Freude aus den Tiefen der Täler
du hältst den Atem an zwischen gestern und
morgen und deine Hände greifen nach Licht
und tragen es talwärts als Tuch
über die Tische der Trauer
Wintermorgen
Schau
in Flocken löst der Himmel
sich lautlos auf
Schneeschleier
umhüllen die Welt
das Wunder wohnt tief
unter den Träumen
Bilanz
du ziehst Bilanz
nimmst wahr
was gewesen
ziehst zusammen
was zerstreut
deutest Dinge
aus der Distanz
du ziehst Bilanz
suchst Klarheit
im Ungeklärten
malst Konturen
ins Schleierhafte
hältst Heilloses
hilflos in Händen
du wagst den Versuch
der Versuche
Unversöhntes
zu unterzeichnen
im Licht von Versöhnung
Psalm zur Jahreswende
Du - das Meer dahin die Flüsse fließen
Du - der Horizont dahin die Jahre ziehen
Du - der Abend dahin die Stunden fliehen
Du - der Morgen dahin die Träume drängen
von einer Welt in der Dein Gesicht
sich widerspiegelt im Gesicht des Menschen
Unterwegs
es gibt kein Zuhause
in Nischen
es treibt dich ein Sturm
heraus und voran
zu irren zwischen
Irrtum und Einsicht
zu suchen im Unterwegs
ein Zuhause
Frühling
nah am Tor
noch entblättert
die Trauerbirke
zurückgedrängte Kraft
in zitternden Zweigen
zurückgedrängtes Feuer
im stummen Stamm
es wird ein Gesang
besiegen den Frost
es wird ein Gestirn
entfachen ein Feuer
in Stamm und Geäst
es wird ein Frühling
vertreiben die Trauer
So viele Lenze
und wieder Saft
in den Zweigen
den Taktstock
des Frühlings
leih ich mir
für ein neues Lied
Ostern
Und plötzlich
wälzt dir ein Engel
den Stein von der Gottfinsterferne
Es wird Zeit
Wie lange wir schon stehen
am offenen Grab
voll Trauer voll Staunen
hinter dem Stein
es wird Zeit für uns
mit aufzubrechen
aus dem Tod ins Leben
Rosenzeit
zur Feier des Tages
eine Rose für dich
dass Freude
sich unverloren verliert
in farbenberedte
Sprachlosigkeit
Entfaltete Flügel
was bleibt von alledem
vom Gesang des Sommers
vom tete a tete des Glücks
von den Farben der Freundschaft
vom Tag-Traum und Nacht-Gespinst
von den Schüben des Schicksals
nichts bleibt im Verbleiben am Fleck
alles bleibt in der Kraft entfalteter Flügel
Jahresabschied
im
																																							  Dämmer
über hingeduckten Häusern
ein magerer Mond über dem Meer
am letzten
																																							  Tag des Jahres
allein dem Menschen möglich
das Zugehen auf Zukunft
von Jahr
																																							  zu Jahr
von Neumond zu Neumond
zu neuem Ziel
Eisregen
als
																																							  der Eisregen kam
floh ich unter ein Dach
schlug Feuer
aus meinen Gedanken
mit
																																							  warmer Stirn
zu trotzen der Kälte
Neujah
r
unter
																																							  Wellenrauschen 
in ein neues Jahr
wir flüchtigen Wesen
 verrauschender
																																							  Zeit
hingeworfen
ans nackte Ufer
festzuhalten den Tag
fortzuschreiben den
																																							  Weg
Bau dir ein Haus
bau dir ein Haus
fest für den
																																							  Rücken
das dich stärkt 
im aufrechten Gang
bau dir ein Haus
tragbar für die
																																							  Tasche
das dich begleitet 
quer durch die Zeit
bau dir ein Haus
verborgen im
																																							  Herzen
das dich wärmt 
im winterlichen Frost
bau dir ein Haus
hell hinter den
																																							  Gedanken
das dir leuchtet 
zu nächtlicher Stund
Frühlingstag
Und
																																							  wieder 
der Vogel Mut
auf deiner Schulter
mit seinem jungen Lied
wo
																																							  wohnen
 die guten Geister
die dir helfen
 aufzustehen
Gestern
habe
																																							  ich kühn meine Kraft 
dem Frühling versprochen
einen kargen
																																							  Boden
 aufzukrusten
spatenstichtief 
Träume einzusäen
unter der
																																							  Oberfläche
 
verhärteter Furchen
Himmelfahrt
Möcht den
																																							  Himmel gewinnen
wie Du ihn gewonnen
 
im Wagnis der Liebe
Morgen im Mai
du bist dabei
wenn der Morgen im Mai
mit dem ersten
																																							  Möwenschrei
geboren wird
du bist dabei
 
wenn der Morgen im Mai
so leichtfüßig
																																							  frei
am Horizont steht
du bist dabei
wenn der Morgen im Mai
so sorglos
																																							  frei
über die Erde zieht
Sommer
den Sommer 
anwachsen
																																							  lassen
über der Stirn
was brach liegt
zum Blühen bringen
in neuem
																																							  Licht 
vielleicht möcht 
ein einziges Wort
auferstehen
 zum Leben 
unter dem Himmel
 dem einzigen
Noch ist Sommertag
und offen der Himmel
die Luft voller Samen
und süßem Duft
in den
																																							  Feldern der Mohn
in den Gärten Margriten
am Steilhang
 zwischen Moos
mein
																																							  kleines Gedicht
noch ist Sommertag
und offen der Himmel
es dreht sich der
																																							  Drachen
lautlos im Wind
d
er Surfer spannt den Flügel
zum Flug über Fluten
am
																																							  Spinnennetz spinnt
mein kleines Gedicht
noch ist Sommertag
 
und offen der
																																							  Himmel
es atmet die Erde
ganz arglos im Traum
was tun- wenn durch
																																							  Menschen
Zerstörung einbricht
schon wachsen Taubenflüg
meinem kleinen
																																							  Gedicht
2. Teil
Wandel der Jahreszeiten
immer ein Stück
sich selbst vorau sein
auf den Wegen voran
Wandlungen begegnen
wie Freunden
Veränderungen begrüßen
wie den Wandel der Jahreszeiten
dem Rhythmus
dem Kreis nachspüren
dem Lauf der Flüsse ins Meer
Der Sommer geht hin
nichts ist mehr zu halten
der Sommer geht hin
Wolken schwärzen den Himmel
der Wein an den Wänden vergilbt
was unter der Sonne wuchs
hat ein Sturm zerrissen
hinter den Türen lauert der Frost
Gedanken schrumpfen zu Chips
warme Worte sind nicht mehr vorrätig
es bleibt dir der Regenbogen dich festzuhalten
Etwas gegen den Wind setzen
etwas Helles gegen die Nacht
etwas Festes gegen den Schwindel
etwas Klingendes gegen doie Leere
einen Traum gegen den Tag
eine Insel gegen den Lärm
einer Rose gegen den Winter
ein Tun gegen das Chaos
ein Gedicht gegen dioe Sprachlosigkeit
Gebete gegen den Stumpfsinn
etwas gegen den Wind setzen
Herbst
Nebelschwaden
über der Welt
ich such im Windlicht
meinen Weg
hab noch Sand
in Hosentaschen
hab ein Lied
das weiterträgt
Freunde finden
ein Haus finden
zu wohnen
hinter Tausendklang
im Einklang
Freunde finden
zu zünden in
der Kälte
ein Feuer
Töne finden
zu singen
gegen die Leere
ein Lied
Sonnenblume
ich möcht
mit deiner Sprache sprechen
ich möcht
mit deinem Blühen blühn
ich möcht
mit deinem Lachen lächeln
ich möcht
mit deiner Farbe färben
trüber Tage Nebelkleid
Erntedank
als Dank für die Geduld des Himmels
daß nicht aufhört Frost und Hitze
Sonne Wind und Regen
daß noch Zeit bleibt für bessere Früchte
auf der bedrohten Erde
Erntedank
als Dank für die Fähigkeit
zu Einsicht und Umkehr
als Dank für geschenktes Leben
das auf Ernte drängt
immer neu und voll Verheißung
Das Unfassbare
es wächst die Trauer
über das unfassbar Mögliche
über Menschenwerke
monströser Vernichtung
rund um die Erde
es wächst die Fantasie der Furchtlosen
die Solidarität der Träumer
die Freundschaft der Friedfertigen
des Bruders Hüter zu sein
rund um die Erde
Ich ahne
Menschenmögliches
zwischen Menschen aller Rassen und Nationen zwischen Menschen aller Generationen
zwischen Mann und Frau
Ich ahne Menschenmögliches
im Unmöglichen
Menschenunmögliches als Mögliches
unter dem Zuruf des Himmels
Weihnachten
Unser Weg in die Zukunft
Fußmarsch am Grat
Meter um Meter durch Nebel
wir schlagen ein Zelt auf
und hauchen Leben
warm gegen den Wind
bedenken die Stätten
die längst schon begangen sind
weit zurück bis zur Hütte zum Kind
und wagen neu gegen die Kälte zu gehen
Weihnachtswunsch
wach zu bleiben
wie die Weisen
hellhörig wie die Hirten
bewegt wie Josef
wissend wie Maria
Gefährten zu finden mit Flügeln
Abschied von Weihnachten:
vorbei der Traum
der Baum steht müde
mitten in dem Raum
zu Tränen werden Kugeln
gläserngroße Tropfen
Lamettasträhnen
hängen wirr umher
und die Sterne rund
um abgebrannte Kerzen
haben keine Leuchtkraft mehr
vorbei der Traum
wir räumen den Baum
träumen wieder und wieder
den Weihnachts - Traum
Verfügungen für 12 Monate
angelehnt an Thiago de Mello
Januar:
Es wird verfügt, dass Geld niemals die Sonne des kommenden Morgens kaufen kann, und dass jeder Mensch sich an den Tisch setzen kann mit ungetrübtem Blick...
Februar:
Es wird verfügt, dass jetzt die Wahrheit zählt, dass jetzt das Leben zählt, und dass wir alle Hand in Hand
für das wahre Leben eintreten.
März:
Es wird verfügt, dass es jedem Menschen erlaubt ist, sich in jeder Stunde seines Lebens weiß zu kleiden.
April:
Unwiderruflich wird die ewige Herrschaft der Gerechtigkeit und des Lichtes ausgerufen!
Mai:
Es wird verfügt, dass alle Fenster den ganzen Tag dem Grünen geöffnet bleiben, wo die Hoffnung wächst!
Juni:
Es wird verfügt, dass das tägliche Brot immer den warmen Geschmack der Zärtlichkeit haben soll!
Juli:
Es wird verfügt, zu wissen, dass es das Wasser ist, das der Pflanze das Wunder der Blume gibt!
August:
Es wird erlaubt sein, am Nachmittag mit einer riesengroßen Begonie im Knopfloch spazieren zu gehen! Nur eines wird verboten sein:
zu lieben ohne Liebe.
September:
Es wird verfügt, daß von nun an in allen Fenstern Sonnenblumen stehen.
Oktober:
Es wird verfügt, dass der Mensch niemals mehr am Menschen zweifeln muß, dass der Mensch dem Menschen vertrauen kann wie die Palme dem Wind!...
November:
Es wird verfügt, dass Menschen frei vom Joch der Lüge sind. Niemals wird es nötig sein, sich zum Schutze in Schweigen zu hüllen!
Dezember:
Für ein Jahrtausend wird das von dem Propheten Jesaja erträumte Leben festgesetzt: Der Wolf und das Lamm werden gemeinsam weiden, und die Nahrung beider wird nach Morgenröte schmecken.